C D s
|
NEUES AUS
DER MUSIKWELT
JAZZ
In dem Film „Coco & Igor“, wo es
um die Romanze zwischen Igor
Strawinsky und der selbstbewuss-
ten Coco Chanel geht, wird das
Geschehen bei der Uraufführung
von „Le sacre du printemps“ im
Jahr
1913
in starken Szenen nach-
gestellt. Mit seinen entfesselten
Klängen und orgiastischen Rhyth-
men führte das revolutionäre, für
ein Ballett konzipierte Orchester-
werk beim Publikum zu tumultar-
tigen Reaktionen.
Im vergangenen Jahr wurde das
hundertjährige Jubiläum des Meis-
terwerks gefeiert. Für The Bad
Plus war das ein Anlass mehr, da-
von eine in der Sphäre der im-
provisierten Musik geerdete Ver-
sion zu kreieren. Dabei hielt sich
die vor mehr als einer Dekade ge-
gründete, mit Attributen wie das
„lauteste Piano-Trio“ bezeichne-
te Formation an die beiden Parts
von „The Rite Of Spring“. Zunächst
erschien mir das Vorhaben, Stra-
winskys phänomenales Werk auf
eine Combo zu transferieren, äu-
ßerst problematisch. Das betraf
nicht so sehr die Übertragung der
Rhythmik auf Bass und Drums,
vielmehr erschienen mir die in
vielschichtigen Orchesterfarben
auftauchenden Melodien als nicht
reproduzierbar.
Doch die Protagonisten von
The Bad Plus lösen diese Aufga-
be in der gewohnt lässigen Art.
Den ersten Part „The Adoration
Of The Earth“ unterlegte der Bas-
sist Reid Anderson mit Electro-
nics, die mit ihren abstrakt klin-
genden Sound-Skulpturen Stra-
winskys Orchestrierung skizzie-
ren und gleichzeitig auch Ethan
Iversons Pianospiel transparent
hervorheben. „Sacrificial Dance“
im zweiten Teil mit seinen unre-
gelmäßigen Rhythmen und osti-
naten Pianofiguren bildet das Fi-
nale einer spannenden und unge-
wöhnlichen Auslegung eines Jahr-
hundertwerks.
Gerd Filtgen
MUSIK
KLANG
Ambrose A kinm usire
THE IMAGINED SAVIOR
IS FAR EASIER TO PAINT
г м
Blue Note/Universal CD
(78')
Schon Akinmusires Albumtitel evo-
zieren Geschichten, die der Hörer
weiterspinnen kann, und von narra-
tivem Gestus sind auch seine Stü-
cke. Nachdem der Sohn nigeriani-
scher Eltern sich als Bandleader
und Trompeter eingeführt hat, den
man im Blick behalten sollte, rückt
er jetzt seine ambitionierten Kom-
positionen in den Vordergrund. Er
erweitert sein famoses Quintett
und lässt Vokalisten, etwa Theo
Bleckmann, das Erzählerische der
Stücke unterstreichen. Und wenn
seine Trompete flüstert und win-
selt, auftrumpft und jubiliert, wird
auch sie zu einer Stimme in seiner
Story.
klm
MUSIK ★ ★ ★ ★
KLANG ★ ★ ★ ★ ★ ___________
Die Hohe Kunst
der Liebe zur Musik
Ja, es gibt sie, die Kunst, über Musik zu schreiben, ohne m it analy-
tischem Instrum entarium den Eindruck zu erwecken, als gäbe es
empirisch ermittelte W ahrheiten zu verkünden. Der schweizerische
Schriftsteller und Theaterdram aturg Peter Rüedi gehört zu diesen
raren W ortkünstlern, die sich nicht zieren, ihre Liebe zur Musik
in den V ordergrund zu stellen und dabei kluge Bögen von philo-
sophischen Betrachtungen bis tief in die Gefühlswelt des Hörers
zu spannen.
Unter dem Titel „Stolen M om ents“
sind nun über 1500 seiner großartigen
Jazz-Rezensionen, die der Schweizer
in drei Jahrzehnten vornehm lich in
der „Weltwoche“ und gelegentlich in
der „ZEIT“ verfasst hat, erschienen.
Ein 1300 Seiten schwerer Brocken,
dessen Layout den Charm e eines Te-
lefonbuchs ausstrahlt, dessen Inhalt
aber von hoher Sprachkunst und
beeindruckender Kompetenz geprägt
ist. Eine schier unerschöpfliche Ent-
deckungsreise durch die vielfältigen
Facetten m oderner Musik.
rhn
Peter RUedi: Stolen Moments
(Echtzeit Verlag), gebunden,
13 2 0
Seiten,
63
Euro
Paul Bley
(» I
PLAY BLUE: OSLO CONCERT
ECM/Universal CD
(57')
Ähnlich wie die Soloalben Keith
Jarretts lässt ECM die von Paul
Bley vor der Veröffentlichung ei-
nige Zeit reifen. Der vorliegende
Mitschnitt vom Jazz-Festival Oslo
2008
ist das zweite Soloalbum des
kanadischen Pianisten für das La-
bel seit „Open, To Love“ (
1972
), je-
nem Meilenstein, der einst diese
Gattung auf die ECM-Agenda setz-
te und die Klangästhetik der Firma
begründete.
Der Titel „Play Blue“ - ein
Anagramm auf „Paul Bley“ - spielt
mit den Worten wie der Künstler mit
der Jazztradition und dem Blues.
In seinen mäandernden, freien Im-
provisationen phrasiert Bley jaz-
zig, streift Bluesphrasen oder deu-
tet sie an, ohne Blues zu spielen.
Seine Stücke basieren schon mal
auf Standards - etwa „Longer“ auf
Gershwins „How Long Has This
Been Going On“: Da gleicht der
Schatten des Originals einer va-
gen Erinnerung, von der die Impro-
visation sich immer weiter entfernt.
Einmal mehr zeigt der damals
76
-Jährige sich als Meister der Kon-
zentration aufs Wesentliche. Selbst
in schnellen Läufen oder cluster-
artigen Verdichtungen bleibt sein
Spiel sparsam, sperrig, spröde.
Noch in freier Improvisation der
Melodie verbunden, strahlt es gro-
ße Ruhe und Klarheit aus.
Mitunter scheinen Bleys Rechte
und Linke jeweils eigene Wege zu
gehen; mal hält die eine inne, als
wolle sie der anderen zuhören. Los
geht’s mit wiederholten Akkorden
und einem kreisförmigen Verlauf,
eine Melodie zerfranselt in freier
Improvisation, die schlussendlich
in Tiefen stürzt, wo es hallt wie aus
einer Gruft („Far North“). Als Zuga-
be gibt’s das melodisch begrenzte,
aber rhythmisch raffinierte „Pent-
Up House“ von Sonny Rollins, des-
sen Band Bley
1963
angehörte. Der
„wahre“ Bley spielt heute solo.
Berthold Klostermann
MUSIK
KLANG
Das DR-Logo gibt den Dynamikumfang des Tonträgers an. Nähere Infos unter www.stereo.de
STEREO 5/2014 137
FOTO: LUCA D'AGOSTINO/ECM RECORDS